Diskurs, Interview
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Architektur als Bewegungsraum – Interview mit Burkhard Remmers (Wilkhahn)

Am 22. Oktober veranstaltet die DGNB in Kooperation mit Wilkhahn und Wulf Architekten die Diskurs-Veranstaltung „Architektur als Bewegungsraum – ein Paradigmenwechsel?!“. Im Interview erklärt Burkhard Remmers, Leiter Internationale Kommunikation bei Wilkhahn, warum es ein Umdenken in der Konzeption von Bürogebäuden braucht.

Burkhard Remmers (Wilkhahn)

Burkhard Remmers (Wilkhahn)

Felix Jansen (FJ): Herr Remmers, Sie plädieren dafür, etwas im Wortsinn Unbewegliches wie eine Immobilie zum Bewegungsraum machen. Was genau meinen Sie damit und warum ist dies eine durchaus akute Problemstellung?

Burkhard Remmers (BR): Zumindest die meisten Gebäude sind für den Menschen gemacht. Der biologische Bauplan des Menschen wiederum ist auf Bewegungen ausgelegt, und der Organismus ist umgekehrt auf Bewegungen angewiesen. Leben heißt Bewegen – und dadurch liegt es nahe, den Lebensraum Gebäude als Bewegungsraum zu definieren. Das hat deshalb enorm an Relevanz gewonnen, weil durch die heutigen Lebens- und Arbeitsstile die gesundheitlich notwendigen Minimalaktivitäten häufig nicht mehr erreicht werden. Die Gesundheitsforschung geht davon aus, dass nahezu alle Zivilisationskrankheiten direkt oder indirekt mit Bewegungsarmut zusammenhängen. Die Zunahme von Rückenschmerzen, Herz-Kreislauferkrankungen, Übergewicht, Diabetes und anderen Stoffwechselstörungen auch bei Jugendlichen macht es erforderlich, die bisherigen Planungsgrundlagen grundsätzlich zu überdenken. Es war in der Natur offensichtlich nicht vorgesehen, dass wir überleben können, ohne mehr zu bewegen als unsere Finger zur Bedienung von Tastatur und Maus. Oder noch pointierter: Dass der Bewegungsraum, den wir durchstreifen müssen, um unseren Lebensunterhalt zu sichern, auf das Display eines Smartphones reduziert sein kann. Die Frage lautet deshalb: Wie bringen wir mehr Bewegung zurück in die Prozesse und in die Bürogebäude?

FJ: Beschränkt sich das Thema rein auf Büroräumlichkeiten? Oder ist es auch bei Gebäuden anderer Nutzungstypen sinnvoll oder sogar notwendig mehr Anreize zur Bewegung zu schaffen?

BR: Ja, das ist eine generelle gesellschaftliche Herausforderung! Wie muss Umwelt gestaltet sein, damit sie genügend Bewegungsanreize setzt? Das reicht von der Arbeitsweltgestaltung über den Wohnungsbau bis hin zu städtebaulichen Konzepten und urbaner Mobilität. Es ist bezeichnend, dass wir heute unter Mobilität vor allem verstehen, wie wir bewegt werden. Und die allermeisten Fortschritte bei Medien, Organisationskonzepten und Gebäudetechnik zielen fatalerweise darauf, Bewegungsräume zu reduzieren und das Leben noch bequemer zu machen. Die Schere zwischen dem, was wir biologisch brauchen, und dem, was wir technologisch können, geht immer weiter auseinander.

FJ: Worin besteht für Sie die unmittelbare Verknüpfung zum Thema Nachhaltigkeit?

UN City Kopenhagen (Foto: Adam Mørk)

UN City Kopenhagen (Foto: Adam Mørk)

BR: Die sozialen Qualitäten eines Gebäudes sind ja ohnehin Bestandteil der Nachhaltigkeit. Aus unserer Sicht sind sie sogar entscheidend für dessen Sinnhaftigkeit. Was, wenn nicht die Gesunderhaltung, kann für die sozialen Qualitäten eines Gebäudes stehen? Bislang reduziert sich das freilich vor allem auf stoffliche Fragen, bei denen es um gesundheitsrelevante Emissionen geht. Die zentrale Bedeutung der Bewegung hat hier bislang wenig Eingang gefunden. Aber es gibt auch noch andere Schnittmengen, etwa zur Gebäudetechnik. Laut Fraunhofer-Institut entsprach in 2010 der Energieverbrauch der rund 4,8 Millionen Aufzüge in 27 EU-Mitgliedsstaaten mit 18 TWH dem Gesamtverbrauch im bundesdeutschen Schienenverkehr. Anstatt durch technologische Verbesserungen den Energieverbrauch zu senken, könnte man darüber nachdenken, wieder die Treppe in den Mittelpunkt der Gebäudeerschließung zu stellen und die Berechtigung zur Aufzugsnutzung auf diejenigen zu beschränken, die sie wirklich brauchen. Man würde dann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Viel größere Einsparungen bei den Aufzügen, als sie jemals durch technologische Fortschritte zu erzielen wären, und deutlicher Mehrverbrauch dort, wo es der Gesundheit dient, nämlich bei der Kalorienverbrennung. Und nebenbei würden neben den Bewegungen auch die Begegnungen gefördert, was der sozialen Gemeinschaft ebenso dienlich ist wie der Wissensvernetzung.

FJ: Haben Sie Tipps, wie man als Arbeitgeber schon mit kleinen Mitteln dafür sorgen kann, dass die eigenen Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz als Bewegungsraum wahrnehmen und im Sinne ihrer Gesundheit nutzen? Was setzen Sie selbst bei Wilkhahn bereits um?

BR: Wir sollten einfach bei allem, was wir tun, die Bewegungsförderung als Kriterium auf dem Schirm haben. Und das bedeutet, sich von der Idee zu verabschieden, dass Wegezeiten, spontane Gespräche auf dem Gang oder der Gang zum Drucker unproduktive Zeitverschwendung seien. Es geht um Räume, aber eben auch um die Prozesse, die neu gedacht werden müssen. Zum Beispiel beim Telefonieren grundsätzlich aufzustehen, Meetings in kleiner Runde konsequent im Stehen durchzuführen, den Papierkorb in die Ecke zu stellen, Zentraldrucker anstatt einzelner Arbeitsplatzdrucker anzuschaffen und prinzipiell weitere Wege zu gehen. Bei Wilkhahn haben wir natürlich das Privileg, die eigenen Produkte nutzen zu können. Die allermeisten – auch in der Fertigung – sitzen auf dem ON, der mit seiner Trimensionskinematik deutlich mehr Bewegungsimpulse gibt als konventionelle Bürostühle. Wir nutzen die Stehhilfe Stitz und bei Workshops und Seminaren die mobilen, klapp- und faltbaren Tische, mit denen wir die methodischen Settings selbst verändern können. Und dadurch, dass wir über 100 Jahre am gleichen Standort organisch gewachsen sind, es sind weite und verschlungene Wege zurückzulegen, um zu den verschiedenen Abteilungen und Bereichen zu kommen. Aber auch kulturell tut sich etwas: Viele haben Schrittzähler und sind in Teams organisiert, die im spielerischen Wettkampf um möglichst viele Schritte stehen. Dennoch: Auch wir haben noch viel Potenzial, den inneren Schweinehund der Bewegungsfaulheit zu überwinden.

FJ: Was war der initiale Anreiz für Wilkhahn, sich schon vor 40 Jahren mit dem Thema Bewegungsförderung im Raum auseinanderzusetzen? Für einen Hersteller von Büromöbeln scheint das auf den ersten Blick eher ein Randthema zu sein.

Bürostuhl FS aus dem Jahr 1982 (Foto: Wilkhahn)

Bürostuhl FS aus dem Jahr 1982 (Foto: Wilkhahn)

BR: Das haben wir vor allem der Zusammenarbeit mit der legendären Ulmer Hochschule für Gestaltung zu verdanken. Hier hatten wir frühzeitig gelernt, dass vor dem Produkt immer die Idee zu stehen hat. Und das bedeutet, sich intensiv und seriös mit dem Kontext auseinanderzusetzen, um das Fehlende zu finden. Nick Roericht, Schüler und Lehrer an der HfG Ulm und später Professor an der UdK Berlin, hatte für Wilkhahn entsprechend schon Anfang der 1970er Jahre eine Studie rund um das Sitzen erstellt. Sie umfasste historische und soziokulturelle Aspekte der Büroarbeit ebenso wie den ergonomischen und medizinischen Forschungsstand. Aufgrund der Ergebnisse stellte er die Studie unter den programmatischen Titel „Vom Haltungssitz zum Bewegungssitz“. Damit war die Idee des dynamischen Sitzens geboren, die bei Wilkhahn in der Entwicklung der Bürostuhllinie FS schon 1980 einen ersten Höhepunkt fand. Mensch, Prozess, Technologie, Einrichtung und Raum hängen untrennbar zusammen und bilden das Ganze. Wir sind davon überzeugt: Auch wenn man nur für einen Teil davon verantwortlich ist, sollte man eine fundierte Idee von diesem Ganzen haben.

FJ: Vielen Dank für das Gespräch. Wir freuen uns schon auf eine spannende, gemeinsame Veranstaltung im Oktober.


 

Die Veranstaltung „Architektur als Bewegungsraum – ein Paradigmenwechsel?!“ findet am Donnerstag, den 22. Oktober von 17:30 bis 21:00 Uhr in der DGNB Geschäftsstelle (Tübinger Str. 43, 70178 Stuttgart) statt. Die Teilnahme ist kostenlos, eine Online-Anmeldung ist erforderlich.

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