Bauen im Bestand ist für Architekten eine ebenso reiz- wie anspruchsvolle Aufgabe. Neben den technischen Unwägbarkeiten gilt es, das Vorgefundene in Einklang mit dem eigenen Entwurfsansatz zu bringen. In Kassel hat das Büro Reichel Architekten PartGmbB die Bestandsgebäude der Evangelischen Bank nicht nur gestalterisch, sondern auch energetisch in die heutige Zeit transportiert.
Gerade beim Thema Nachhaltigkeit spielt der Gebäudebestand eine wichtige Rolle. Ganz abgesehen von der Identitätsbildung eines Ortes, zu der historische Bauten der Gründerzeit ebenso beitragen wie die Bauten der Nachkriegsmoderne, birgt der Bestandserhalt ein enormes Einsparpotential an nicht sichtbaren, sogenannten grauen Energien. Es gilt also, das Vorhandene verantwortungsvoll zu sanieren und bei Bedarf einer neuen Nutzung zuzuführen. Wie das gelingen kann, zeigt die Neuordnung der Evangelischen Bank am Rande der Kasseler Innenstadt. Hier haben Architekt Prof. Alexander Reichel und sein Team zwei in die Jahre gekommene Immobilien zu einer Einheit zusammengefasst und in den innerstädtischen Kontext eingebunden.
Bauherr, Architekt und Fachplaner auf einer Wellenlänge
2016 waren Reichel Architekten als Gewinner aus dem Wettbewerb hervorgegangen. Nun galt es, die beiden Bürogebäude umfassend zu sanieren: Das, im Zuge des Wiederaufbaus 1949 errichtete und in den 1970er Jahren aufgestockte, unter Denkmalschutz stehende Haus am Ständeplatz und den 1981 fertig gestellten Erweiterungsbau nebenan. Die ohne Bezug zueinanderstehenden Bauten bildeten auch im Stadtraum keine nennenswerte Qualität. Entstehen sollte ein in sich verbundener, prägnanter Gebäudekomplex der Mitarbeiter, Kunden und Besucher gleichermaßen empfängt, Tradition mit Innovation verbindet und die Identität der Bank widerspiegelt. Der nachhaltige Umgang mit dem Bestand war von Anfang an gesetzt. Zertifiziert nach dem europäischen Umweltmanagementsystem EMAS hat sich die Evangelische Bank dem Thema in allen Bereichen der Unternehmensführung verschrieben.
„In unserem Büro beschäftigen wir uns seit über 20 Jahren mit dem Bestand und konnten dabei Projekte aller Größenkategorien realisieren. Die Unvorhersehbarkeiten dieser besonderen Bauaufgabe erfordern von allen Beteiligten ein hohes Maß an Flexibilität. Diese Herausforderung nehme ich immer wieder gerne an“, so Alexander Reichel zu seiner Intention. Zum Thema nachhaltiges Bauen und Entwerfen lehrt er als Professor seit 2010 an der Hochschule Darmstadt.
Eine weitere Qualitätssicherung in puncto Nachhaltigkeit stellte das bereits im Wettbewerb involvierte Beratungs- und Architekturbüro ina Planungsgesellschaft aus Darmstadt dar. Im Projektverlauf entschied der Bauherr, das Projekt DGNB-zertifizieren zu lassen. Joost Hartwig, Geschäftsführer der ina Planungsgesellschaft und seine Kollegin Isabell Passig begleiteten den Zertifizierungsprozess als DGNB Auditoren. DGNB Gold steht nun auf der Urkunde.
Seine Haltung zum Thema Bauen im Bestand fasst Hartwig wie folgt zusammen: „Die Weiternutzung der vorhandenen Bausubstanz in zeitgemäßer Gestaltung ist im besten Sinne nachhaltig. Allein die Wiederverwendung der Rohbaukonstruktion birgt eine enorme Einsparung an CO2-Emissionen gegenüber einem gleichgroßen Neubau. Diese konnte bei der Bank in der Ökobilanz für die DGNB Zertifizierung positiv berücksichtigt werden.“
Neuordnung und Erweiterung des Vorgefundenen
Das sechsgeschossige Haupthaus am Ständeplatz wurde denkmalgerecht saniert. Der Erweiterungsbau hingegen nach eingehender Bestandsaufnahme bis auf das Betonskelett, drei Untergeschosse einschließlich der bestehenden natürlichen Lüftung und die Treppenhauskerne rückgebaut. Als Zeitzeugen blieben die Treppenhäuser samt ihrer Materialität im Original erhalten. Die errechnete Einsparung an grauen Energien beträgt 2.000 Tonnen CO2 im Vergleich zum kompletten Neubau. Eine große Zahl, wenn man bedenkt, dass 75.000 Birken im Jahr 1.000 Tonnen CO2 binden können.
Zur Erweiterung der Flächen und der gleichzeitigen Ausbildung des Stadtraums, wurde ein ausgemauertes Stahlbetonskelett als neue Hülle mit rund fünf Metern Versatz um die Bestandsstruktur herum gelegt. Die helle Kalksteinfassade stellt eine optische Verbindung zum Haupthaus her und fasst die Neuordnung als Ensemble zusammen. Im Inneren ist viel Raum für eine flexible Bespielung der Grundrisse entstanden, die neben einer agilen Arbeitsweise bei Bedarf Nutzungsänderungen zulässt. Dank eines hochwärmedämmenden Mauerwerks konnten die Büroflächen mit geringem Technikaufwand konditioniert werden. Solide Materialien wie Beton, Naturstein und Holz vermitteln Natürlichkeit und runden das Konzept ab. In der Erdgeschosszone binden Gastronomie und Einzelhandel den Komplex in den öffentlichen Raum ein.

Die Glasfuge verbindet heute die Bestandsbauten und ist zentraler Treffpunkt für die rund 350 Mitarbeiter der Bank. © Constantin Meyer
Die neue, gläserne Eingangshalle verbindet als Herzstück der Neuordnung beide Gebäude miteinander und vollendet die städtebauliche Figur. Neben Ankunft und Orientierung bietet die dreigeschossige Halle auch einen Ort für Veranstaltungen. Der als Holzkonstruktion eingestellte „Raum der Stille“ mit seiner transluzenten Hülle bildet einen Bezug zu den Wurzeln der Bank.

Der „Raum der Stille“ in der Eingangshalle. © Constantin Meyer
Intelligente Lösungen und Durchhaltevermögen

© Constantin Meyer
Eine der Herausforderungen beim Bauen im Bestand besteht darin, Lösungen im Einklang mit aktuellen Normen zu finden. Schließlich muss die neue Planung dem Vorgefundenen folgen. Im Falle der Bank stellten notwendige Technikleitungen ein Problem dar. Das gängige Modell, diese unter einer abgehängten Decke zu führen, hätte die lichte Deckenhöhe auf weniger als 2,20 Meter reduziert, was nicht zulässig ist. Spätestens jetzt würden viele für den Abriss plädieren. Nicht so in Kassel. Hier entschied man sich, einen Großteil der notwendigen technischen Infrastruktur in die Wände zu integrieren. So konnte die lichte Deckenhöhe von rund 2,75 Meter erhalten bleiben. Gleichzeitig ist die Wandinstallation rückbaubar, wodurch abermals eine flexible Nutzung der Räume gewährt ist. Und noch ein Problem lösten die Architekten: Im Gegensatz zum Neubau weicht das Rastermaß beim Bestand meist stark voneinander ab. Die Wandverkleidung entlang der Außenfassade kaschiert das und erzeugt ein gleichmäßiges Bild im Innenraum.
Die frei gewordenen Betondecken werden als passive Speichermasse genutzt. Eine, auch für die Zertifizierung notwendige, dynamisch technische Simulation half bei der Entwicklung der Lüftungstechnik. Raumluft und Temperierung der Flächen werden über Einzellüfter in der Außenfassade gesteuert. In der Umkehrung tragen die Geräte kombiniert mit der Speichermasse zur Nachtauskühlung des Gebäudes bei.
In Zusammenarbeit mit einem Leuchtenhersteller wurden Sonderleuchten entwickelt. Licht- und Schallschutzbaffeln strukturieren den offenen Grundriss, sorgen für ausreichend Licht und eine angenehme Raumakustik. Aus der Herausforderung heraus ist ein neues, innovatives Produkt entstanden.