Wir bauen längst nicht mehr für die Ewigkeit. Das zeigt sich immer wieder. Kaum hat ein Bauwerk ein wenig Patina, nach zwanzig, dreißig, vierzig Jahren, wird immer wieder diskutiert, ob es abzureißen ist oder es doch sinnvoll ist, es zu sanieren. Dass das nicht so sein muss, zeigen DGNB Vorstand Dr. Christine Lemaitre und Thomas Auer, Professor für klimagerechtes Bauen an der TU München im Interview.
Das Interview wurde anlässlich des Bluebeam/Nevaris-Online Talks am 11. Oktober 2022 von Tim Westphal, Fachjournalist für Bauen und Digitalisierung der Baubranche, geführt und wird im Fachmagazin Build-Ing print und online (in vollem Umfang) erscheinen.
Tim Westphal: Die DGNB ist mit dem Thema Gebäudelebenszyklus eng verknüpft. Es wird aktuell sehr viel darüber gesprochen, der Begriff selbst ist aber immer noch abstrakt. Was bedeutet er für die DGNB?
Christine Lemaitre: Zum einen kann man sagen: Endlich ist das Thema in der Breite angekommen! Dabei geht es gar nicht darum, was die DGNB oder ich persönlich dazu sagen. Für das Thema Lebenszyklusanalyse, also die Ökobilanz des Gebäudes, gibt es eine internationale Norm. Darin ist alles klar definiert. Der gesamte Lebenszyklus, einschließlich der Bauerrichtungsphase eines Gebäudes, ist hier umrissen. Ganzheitliche Gedanken darüber, wie alles zusammenspielt, mit welchen Materialien ich arbeite, welche Emissionen ich bei der Herstellung und der Nutzung eines Gebäudes verursache. Das Gleiche gilt für die Kosten. Es geht nicht allein darum, die Baukosten anzuschauen, sondern ebenso die Betriebs- und Instandhaltungskosten. Bis hin zum Rückbau.
Tim Westphal: Es wird immer wieder gesagt: Eigentlich ist schon alles gebaut, was wir brauchen. Ist der Neubaubereich nicht dennoch ein wichtiger Bereich – verknüpft mit dem Ziel, resiliente Architektur darzustellen. Oder ermöglicht das ebenso jedes Bestandsgebäude, mit Neuem aufzuwarten?
Christine Lemaitre: Es ist die Mischung aus beidem. Wir sehen gerade, dass in der Architektenschaft eine neue Wertschätzung für den Bestand aufgebaut wird, den Bestand als spannendes Arbeitsfeld zu sehen. Das ist genau richtig. Wir haben wahnsinnig viel gebaut und damit ein großes Potenzial, mit den Bestandsbauten umzugehen – sie zu sanieren, umzubauen und umzunutzen. Meistens fängt es schon damit an, sie erst einmal vernünftig zu betreiben. Andererseits werden wir nicht ganz ohne Neubauten auskommen. Das gilt gerade für infrastrukturelle Projekte oder spezialisierte Gebäude wie Schulen, Krankenhäuser oder Pflegeheime.
Tim Westphal: Thomas Auer arbeitet an der Schnittstelle zwischen Architektur, Ingenieurwesen und Technik. Die Lehre an der TU München ist für ihn eine wichtige Aufgabe. Er sensibilisiert stark für eine anpassungsfähige, für eine resiliente Architektur und für ressourcenschonendes Bauen – durch einen sinnvollen Technologieeinsatz. Wie ist das Thema Gebäudelebenszyklus im Lehrstuhl verankert?
Thomas Auer: Die Betrachtung des Lebenszyklus sollte immer Grundlage unseres Handelns und unseres Planens sein. Das versuchen wir auch zu verankern. Wir selbst forschen nicht am Lehrstuhl hinsichtlich Lebenszyklusbetrachtung und -berechnung. Es geht uns mehr um die Fragen, welche Qualitäten wir herstellen müssen, auch Aufenthaltsqualitäten. Wir sprechen gern von der „unsichtbaren Qualität von Architektur“; etwa, wie schaffen wir Gebäude, in denen sich Menschen wohlfühlen? Wodurch diese Gebäude bereits die Grundlage dafür bieten, länger zu bestehen. Aber auch bei Technologie geht es manchmal um profane Themen: Wie führen wir Installationen aus? Denn diese haben eine kürzere Lebenszeit als die Struktur des Gebäudes. Außerdem beobachten wir aktuell, wie Gebäude der 1970-er und 1980-er Jahre abgerissen werden, eben wegen veralteter Technik. Wichtige Fragen sind daher: Welche Technik ist sinnvoll, und wie können wir Technik installieren? Wie können wir Architektur so gestalten, dass Technik austauschbar ist? Wie gehen wir – bereits in der Planung – mit den Lebenszyklen jedes einzelnen Gewerks um?
Tim Westphal: Wir wissen, dass wir uns der Frage nach einer anpassungsfähigen Architektur stellen müssen. Nur gibt es kein Patentrezept dafür. Aber vielleicht eine Idee, worauf man achten soll?
Thomas Auer: Eine Maßnahme, die immer hilft, ist Raumhöhe. Viele Gebäude der Siebzigerjahre, deren Technik veraltet ist, werden tatsächlich abgerissen, weil sie nicht über die Flexibilität verfügen, neue Systeme zu installieren. Hinzu kommt die ganze Dateninfrastruktur, die wir heute benötigen. Serverräume etc. „Loose-Fit“, ist tatsächlich eine Maßnahme, die die Flexibilität bei einer Umnutzung in Zukunft erhöht. Dann gibt es sicher noch weitere Dinge. Ich glaube, dass wir durch flexible Grundrisse ebenfalls viel erreichen können. Aber: Wir müssen mehr Material einsetzen, um „Loose-Fit“ herzustellen. Wie weit solche Ansätze die Flexibilität in der Zukunft erhöhen, ist Spekulation.
Christine Lemaitre: Wir kommen aus einer Zeit, in der man vorformulierte Raumkonzepte quasi aneinanderreihte. Sprechen wir über Lebenszyklusbetrachtung, reden wir auch über Instrumente und Methoden, die wir inzwischen zur Verfügung haben. Man kann argumentieren: Höhere Raumhöhen bedeuten mehr Material. Wir müssen aber vielmehr die Methode einer Ökobilanz zum neuen Standard machen. Ich bin mir sicher, dass wir trotz größerer Raumhöhen mit dem Suffizienzansatz und der Frage danach, wie viel Fläche brauche ich überhaupt, durchaus weiterkommen. Wir kommen aus einer Maßnahmen-Denkweise, stets eine Lösung parat zu haben, ohne zu wissen, wo das Gebäude steht und was eigentlich gebaut werden soll. In dieser Situation sind lebenszyklusbasierte Planungsmethoden – Ökobilanz, Lebenszykluskostenberechnung – sehr wichtige Instrumente. Wir müssen diese Methoden zügig entmystifizieren und bekannt machen.
Tim Westphal: Ist das nicht grundsätzlich auch ein Thema unserer Architekturentwicklung die letzten 40, 50 Jahre? Dass es immer um Gewinnmaximierung, Kosten-Nutzen-Rechnung, Erreichen des Break Even Point geht: Wie schnell bin ich in der Lage, mein Gebäude wieder ins Positive zu rechnen, und wie ziehe ich mein Geld wieder raus? Ist das auch für die Zukunft ein Ziel? Oder muss man hier nicht menschliche Aspekte erneut stärker verankern?
Thomas Auer: Das ist eines unserer größten Probleme. Wir sagen stets, Architektur ist ein „freeze“ des gesellschaftlichen „Mindsets“ in einer gewissen Zeit. Wir sehen beispielsweise, dass in der Nachkriegsarchitektur Ressourcen und Geld knapp waren. Entsprechend wurde gebaut; im Hinblick auf den Materialeinsatz wurde sogar durchaus nachhaltig gebaut: Da wurden Geschossdecken als Fertigteile z.B. als Rippendecken mit wesentlich weniger Beton gebaut, als wir es heute machen. Ich denke darüber nach, welchen Eindruck zukünftige Generationen über unser heutiges Bauen haben werden. Ihr Eindruck könnte sein, dass die Epoche hauptsächlich geldgetrieben war. Ich fürchte das ist das Bild, das wir heute abgeben.
Christine Lemaitre: Es ist zu merken, dass Nachhaltigkeit in der kommerziellen Immobilienwirtschaft angekommen ist, denn die EU-Taxonomie kommt jetzt mit großem Druck aus Brüssel. Darin verankert ist die Lebenszyklusbetrachtung. Das Umdenken bei Banken und Versicherungen ist schon ersichtlich. Gewinnmaximierung gilt nicht mehr. Es geht nun um Risikominimierung in den Zeiten von Extremwetter-Ereignissen – ich nenne nur Schadstoff- und Überhitzungsprobleme – und im Winter Kälteproblemen in den Gebäuden. Architekten und Planer sind gefordert, dies in ihre Projekte einzubeziehen. Das eine ist, was kommerziell gebaut wird. Der Privatbau muss jedoch als großes Thema an die Kommunen herangetragen werden. Bezahlbares Wohnen ist eine kommunale Aufgabe. Es sind nicht internationale Investmentfonds, die in den Städten die Wohngebäude errichten. Wir müssen hier ebenfalls informiert sein und richtig beraten. Spricht man also heute über Gebäude, sind ganz andere Themen als die kommerziellen relevant.
Tim Westphal: In der Nachkriegszeit ist vor allem kosteneffizient gebaut worden. Das betrifft ebenso Gebäude, die bisher keine Umnutzung erfahren haben, Krankenhäuser beispielsweise. Solch maßgeschneiderten Gebäude: ist für diese eine sinnvolle Nach- und Neunutzung möglich? Oder sind sie eher für uns verloren?
Thomas Auer: Klinikbauten sind zu speziell, um etwas allgemeingültiges zu sagen. Ich bin aber aktuell beratend tätig bei der Umnutzung eines ehemaligen Karstadt-Gebäudes aus der Nachkriegszeit. Und es ist tatsächlich schwierig. Dieses ehemalige Warenhaus-Gebäude aus den 1960er-Jahren stellt große Herausforderungen an eine Umnutzung, angefangen bei der Gebäudetiefe. Die Geschossdecken müssen für den Brandschutz ertüchtigt, teilweise ersetzt werden. Es wäre für den Projektentwickler deutlich einfacher, alles abzureißen. Aber, wie Christine Lemaitre schon sagte, kommt Bewegung rein – auch von wirtschaftlicher Seite. Ein wichtiges Argument ist die EU-Taxonomie. Entwickler denken ebenfalls um. Nochmals: Es gibt ganz wenige Gründe, die einen Abriss zwingend notwendig machen!
Tim Westphal: Gibt es eine Notwendigkeit, Förderansätze zu realisieren, gesetzliche Verpflichtungen einzubringen? Oder muss der Markt das selbst regeln?
Christine Lemaitre: Ich finde für Lebenszyklusbetrachtungen müssen Ideen und Gedanken von allen Seiten kommen. Der Markt allein wird es nicht richten. Ein Teil des Marktes hat das Thema allerdings erkannt und angenommen. Ich kann sagen: Alle, die sich seit 2009 DGNB-zertifizieren, müssen eine Ökobilanzberechnung und eine Lebenszyklusberechnung machen, eine Kostenrechnung erstellen und weitere Lebenszyklusaspekte nachweisen. Wir zertifizieren allerdings nicht alles, was gebaut wird. Daher ist es notwendig, dass sich alle beteiligen; es ist grundsätzlich für die ökologische Weiterentwicklung. Mit unserer Regulatorik haben wir einen hohen qualitativen und energetischen Standard bei der Ausführung der Gebäudehülle erreicht und Effizienzaspekte sind dadurch im Planen und Bauen angekommen. Aber wir sind seit einigen Jahren an einem Punkt, wo weitere Effizienzsteigerung in keinem Verhältnis zum Ergebnis steht. Wir müssen vielmehr die CO2-Emission reduzieren. Und dafür sind die Methoden der Lebenszyklusbetrachtung und -analyse die richtigen Werkzeuge.
Thomas Auer: Der alte Effizienzhausstandard ist bald allein nicht mehr ausreichend. Es braucht dann eine Lebenszyklusbetrachtung, um eine Förderung zu erhalten. Auch in der Sanierung könnte es so kommen. Das ist in diesem Bereich sinnvoll, denn ich bekomme quasi eine Gutschrift: Bei der Gebäudeerstellung gehen stets die meisten Rohstoffe, das meiste CO2 in den Rohbau. Wenn das Gebäude 50 Jahre alt ist, ist der Rohbau für die Lebenszyklusbetrachtung „abgeschrieben“. Das heißt, er geht mit einer Null in die Bilanz ein. In einer Gesamtlebenszyklusbewertung bekomme ich damit einen echten Bonus. Wenn das bei der Sanierung erforderlich wird, dann bekommen wir den passenden Hebel für ein Förderprogramm.
Tim Westphal: Die DGNB bietet eine international anerkannte Zertifizierung. Sie wird aber in gewissen Punkten als kompliziert dargestellt, im Vergleich zu LEED oder BREAM. Ist die DGNB-Zertifizierung wirklich komplexer?
Christine Lemaitre: Wir sind bestimmt ambitionierter. Wenn ich einen Sticker neben der Tür will, den ich mit minimalem Aufwand erreiche, ist das Angebot der DGNB nicht die richtige Wahl. Wir sind ganzheitlicher, genauer in vielen Dingen, also typisch deutsch. Es ist eine andere Planungskultur, die dem DGNB-System zugrunde liegt. Ich höre öfter, dass es so schwer sein soll. Und dann denke ich mir: Wer studiert Architektur oder Ingenieurwissenschaft, weil er einen Job möchte, in dem er dasitzt und Checklisten abarbeitet? Bauen hat doch etwas mit Knobeln zu tun, mit der Herausforderung. Daher finde ich es sehr traurig, wenn Nachhaltigkeit nur aus Marketinggesichtspunkten relevant ist und im Planungs- und Entscheidungsprozess immer gleich eine Pauschallösung her soll und „kurz nachdenken“ zu anstrengend ist.
Tim Westphal: Wobei man zur Ehrenrettung von LEED und BREAM sagen muss, dass man den Sticker auch nicht mal „so einfach an die Tür geklebt“ bekommt.
Christine Lemaitre: In ihrem Kulturraum haben diese Zertifikate sicherlich viel erreicht. Aber sie kommen aus einer anderen Planungskultur, anderen rechtlichen Rahmenbedingungen. Ich bin schon deutlich gegen eine „One-fits-All“-Mentalität. Wir sollten hier in Deutschland nicht anfangen, so zu bauen wie in den USA oder im angelsächsischen Raum.
Tim Westphal: Die Globalisierung trägt nicht alle Wirtschaftszweige. Das haben wir schon in der Corona-Zeit bei den Engpässen in der Rohstoffbeschaffung gemerkt, bei den fehlenden Bauteilen, im Maschinen- und Fahrzeugbau oder in der Computertechnik insgesamt. Müssen wir wieder lokaler denken, vielleicht auch im Hinblick auf das Bauen, die eingesetzten Rohstoffe, ihre Wiederverwertung, überhaupt mit dem Blick auf das Thema Ressource?
Thomas Auer: Die kurze Antwort lautet: Ja, die längere Antwort ist: Ja, aber … Natürlich müssen wir schauen, dass wir Transportwege minimieren. Wir hatten eine Studie angefertigt zu einem Lehmgebäude, bei dem der Lehm über einer Distanz von nur 200 Kilometern angeliefert wurde. Wir wollten es genau wissen und haben die Transport-Lkw gezählt. Das war Teil eines Forschungsprojekts. Der Transport hat die Lebenszyklusbilanz der Lehmwand in einem Maße verschlechtert, dass man sie komplett in Frage stellen kann. Das war uns vorher so nicht bewusst: Transport ist eine relevante Größe, vor allem bei Materialien, die schwer sind. Oftmals haben wir es nicht richtig im Griff, wo sie herkommen; das müssen wir stärker berücksichtigen. Bei heimischen Produkten wie Ziegeln haben wir es im Griff: Der Ziegelstein wird nicht aus Indien oder China kommen. Auch beim Holzbau können wir auf eigene Ressourcen zugreifen. Man kann das Holz zusätzlich zertifizieren oder sicherstellen, dass es aus nachhaltigem nachwachsendem Bestand kommt.
Tim Westphal: Vom Architekten Florian Nagler gibt es drei vielfach gelobte und publizierte Versuchshäuser zum einfachen, nachhaltigen Bauen, die er umgesetzt hat. Was ist davon zu halten?
Christine Lemaitre: Das ist natürlich ein grandioses und großartiges Beispiel. Ich durfte schon dreimal dort vor Ort sein. Ich kann nur empfehlen, sich das Projekt anzuschauen. Es ist wahnsinnig beeindruckend. Betritt man die Gebäude, hat man trotz der Einfachheit eine Empfindung nicht: Das Gefühl, dass einem etwas fehlt! Wir brauchen vielleicht dafür sogar eine neue Art der Kommunikation – immer dann, wenn wir über „Weglassen“ sprechen im Bauen oder über weniger Komfort. Die Leute können es ja gar nicht quantifizieren, keiner hat eine Vorstellung davon. Aber es wird stets mit einer „Verzichtsdiskussion“ gleichgesetzt. Meine Meinung ist: Diese Häuser sind großartige Beispiele dafür, einfach und intelligent zu planen. Man sieht, was für eine hohe Qualität dabei entsteht. Und ich würde nie sagen, dass man auf etwas verzichten muss.
Thomas Auer: Ich fürchte ich bin an der Stelle befangen. Die Gebäude entstanden aufbauend auf das Forschungsprojekt „Einfach Bauen“ der TU München. Florian Nagler hatte die Leitung des Projekts und mein Lehrstuhl durfte mitwirken. Meine insofern befangene Antwort ist: ich finde die Häuser hervorragend. Man kann über die Anmutung, die Gestaltung und auch den Ansatz trefflich streiten. Aber der Streit wäre es wert, weil die Häuser gebaut wurden, weil darin Menschen wohnen, die man zu ihren Eindrücken befragen kann. Weil wir versuchen, das mit Soziologen auszuwerten, was wir sehen und was wir messen.
Tim Westphal: Gehen Sie davon aus, dass denkmalgeschützte Gebäude, die nicht umfassend energetisch saniert werden können, zukünftig vielleicht auch an Wert verlieren? Das neben dem gesellschaftlichen Wert, den ein denkmalgeschütztes Gebäude de facto bereits hat.
Christine Lemaitre: Diese Bauten laufen „außer Konkurrenz“. Ich finde es etwas schwierig. Zum einen, sollte sich der Denkmalbereich ebenfalls zum Thema Klimaschutz angesprochen fühlen. Hier muss man sehen, was mit minimalinvasiven Mitteln möglich ist. Das Thema ist grundsätzlich in der politischen Diskussion. Alle reden über bezahlbares Wohnen, auch die, die sich damit sonst nicht beschäftigen. Wir sollten uns zunächst mit den „low hanging fruits“ befassen, statt mit der Königsklasse zu arbeiten und daran „herumzudoktorn“. Und wenn es um Klimaschutz geht, müssen wir dringend ran an die Gebäude, die der Bund, die Länder und Kommunen bauen.
Thomas Auer: Der Denkmalschutz bereitet uns weniger Sorgen. Das waren, wenn ich es richtig beziffere, ca. 3 Prozent des gesamten Gebäudebestands, der unter Denkmalschutz steht oder eingestuft wird. Aber wenn wir ehrlich sind: Wenn ich durch unsere Städte laufe und die Forderung des Bundes höre, dass bis 2030 fünfzig Prozent des Gebäudebestandes energetisch saniert sein sollen – gibt das zu denken! Energetisch saniert bedeutet mindestens einen Effizienzhausstandard 55 und damit in der kostengünstigsten Ausführung ein Wärmedämm-Verbundsystem. Unabhängig vom Dämmmaterial ändert sich das Erscheinungsbild; es verändert massiv das Gesicht unserer Städte. Im GEG steht, dass der schützenswerte Bestand auch ausgenommen werden kann. Aber die Kommunen tun sich schwer damit, zu definieren, was schützenswert ist. Ich denke manchmal: Vielleicht würden wir mit weniger mehr erreichen. Wir bauen eine große Hürde, wenn Förderung nur möglich ist, wenn „das ganze Paket“ umgesetzt wird. Doch auch im schützenswerten Bestand bzw. Denkmalschutz kann man das oberste Geschoss zum Dachboden und das unterste Geschoss zum Keller dämmen. Meist lassen sich gute Fenster einbauen, mit Kastenfenstern und gegebenenfalls mit Dämmputz arbeiten. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, den Energieverbrauch drastisch zu reduzieren.
Christine Lemaitre: Wir denken stets, wir können das alles baulich lösen. Das ist auch der Grund, warum wir Lebenszyklusanalysen und anschließend Methoden brauchen, um zu einer ausgewogenen Entscheidungsfindung zu kommen. Was hierbei noch fehlt, ist die Frage des Betriebs, des Nutzerverhaltens. Wir haben keine Monitoring-Verpflichtung. Die harte Realität ist, dass die Energieverbräuche von allen Gebäuden in Deutschland unbekannt sind.
Tim Westphal: Es ist ein sehr wichtiger Aspekt, dass entsprechende Technologien vorhanden sind, die man heute nutzen kann. Ob es digitale Technologien sind, wie Tools oder Software, ob es systemische Technologien sind, im Sinne einer Alternative zum erdölbasierten WDVS – es gibt inzwischen Optionen. Wird das Thema Lebenszyklusbetrachtung in den nächsten zwei, drei Jahren also nochmals stärker in den Fokus rücken?
Thomas Auer: Ja. Weil der Rohstoffverbrauch uns dazu zwingt, dass wir Rohstoffe zirkulär nutzen. Wenn wir so bauen und Baustoffe im Kreislauf halten wollen, ist es wichtig zu wissen, was wo und wie verbaut ist. Das muss man bewerten über eine Lebenszyklusanalyse, aber ebenso über digitale Tools, mit denen wir den Einsatz der Baustoffe archivieren können, so dass wir wissen, was wo in der Zukunft nutzbar ist.
Christine Lemaitre: Ja, die Nutzung in der Zukunft ist das eine. Aber das andere ist das „Stoffstrom-Management“ im Hier und Jetzt. Wir haben jetzt Abbruchmaterialien, Bodenaushub, den wir im Durchschnitt 300 Kilometer durch Deutschland fahren, meistens Lkw-Ladungen. Hier hat man ebenso über digitale Werkzeuge Möglichkeiten, die Stoffströme anders zu lenken und das Material sinnvoll wiederzuverwerten.