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Nachhaltige Gebäude: mehr als ESG

Lemaitre Portrait Gespräch

Seit die Europäische Union Nachhaltigkeit zum Wettbewerbsvorteil erklärt hat, ist die Immobilienbranche in Aufruhr. Alle reden über ESG – das steht für Environmental, Social und Governance. Eigentlich ist es nichts Neues, dass eine Immobilie nachhaltig ist, wenn in (Um-)bau oder Betrieb nachweislich Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien berücksichtigt wurden. Da wundere ich mich, warum drei Buchstaben dazu führen, dass plötzlich alles ganz anders und aufregend zu sein scheint. Wie nachhaltiges Bauen in der Realität geht, zeigen wir mit der DGNB seit mehr als 15 Jahren.

Nochmal zur Einordnung: ESG hat seine Anfänge bei den Vereinten Nationen, die Nachhaltigkeitsthemen in den Kapitalmärkten verankern wollten und in den 2000ern Prinzipien für verantwortungsvolles Investieren veröffentlichten. Zum Boom kam es in den USA durch das Pariser Klimaabkommen im Jahr 2015 und in Europa, als die EU den darauf aufbauenden European Green Deal ins Leben gerufen hat, um den Kontinent bis spätestens 2050 klimaneutral zu machen. Zentral darin ist in diesem Maßnahmenpaket die Schaffung eines nachhaltigen Finanzwesens. Der Immobilienwirtschaft kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Denn sie ist für große Emissionsmengen, Rohstoffverbrauch und Abfallaufkommen verantwortlich und zugleich mit dem europaweiten Bedarf nach kostengünstigem Wohnraum konfrontiert.

Mehr Transparenz für Nachhaltigkeit

Das Ziel der EU-Kommission ist es, bei allen Handelssektoren, also auch im Immobilienbereich Transparenz darüber zu schaffen, wie es um die ökologische, soziale und wirtschaftliche Qualität einer Immobilie steht. Es braucht also eine Offenlegung der relevanten Informationen von Seite der Investoren, als auch von Seite der Unternehmen, die Immobilien besitzen, betreiben, an- und verkaufen. Die traditionellen Vertreterinnen und Vertreter der Baubranche wie Planende, Ingenieure und Architekturbüros sind in der Folge gefragt, Gebäude entsprechend „ESG-konform“ bzw. nachhaltig und zukunftssicher zu errichten. Dabei soll ein Klassifizierungssystem der EU mit konkreten technischen Nachhaltigkeitskriterien für Immobilien für eine einheitliche Betrachtung sorgen. Diese sogenannte EU-Taxonomie, die 2020 veröffentlicht wurde und ein freiwilliges Klassifizierungssystem ist, hat den Fokus im ersten Schritt auf Umweltziele, also auf das „E“ und darin auf Klimaschutz und Klimawandelanpassung gelegt. Mittlerweile gibt es auch Kriterien für das zirkuläre Bauen. Die Erweiterung auf weitere Themenfelder ist in Bearbeitung.

Einheitssprache statt Eigeninteressen

Es ist ein notwendiger Schritt der EU, Nachhaltigkeitsthemen im Finanzmarkt so zu verankern, dass sie zum Wettbewerbsvorteil werden. Dennoch sollte der ESG-Hype, den ich derzeit auf Immobilienmessen und zahlreichen Veranstaltungen erlebe, nicht den Anschein erwecken, Nachhaltigkeit im Bauen sei etwas komplett Neues, das gerade erst erfunden wurde! Ich habe den Eindruck, viele Marktakteure scheinen hier jedoch nicht an Klarheit und Einheitlichkeit interessiert zu sein, oder gar daran, auf Bestehendes und Bewährtes aufzubauen. Wieso sonst haben wir in kürzester Zeit eine Vielzahl an parallel entstandenen ESG-Initiativen, Ratingagenturen und Beratungsfirmen am Markt, die behaupten das Thema durchdrungen zu haben – nur wieder etwas anders als die anderen?

Diese Individualisierung und dieses Abgrenzen ist doch genau das Gegenteil von dem, was die EU möchte. Sie will ein gemeinsames europäisches Nachhaltigkeitsverständnis schaffen, das auch global funktioniert! Denn schließlich geht es doch genau darum, die globalen Ziele wie sie durch die SDGs – die Sustainable Development Goals – übergeordnet formuliert sind, zu erreichen, und zwar alle gemeinsam! Dringend gefragt sind deshalb klare Standards, die auf Akzeptanz bei der Politik und im Markt treffen und frei von singulären Eigeninteressen sind. Es bedarf der Harmonisierung von ESG-Reporting-Anforderungen für Unternehmen und die kurzfristige Verbesserung der Datenerhebung. Kombiniert werden muss dies mit einer unabhängigen Qualitätsprüfung, um sicherzustellen, dass das, was versprochen wird, tatsächlich umgesetzt wurde. All dies würde auch das derzeit zu beobachtende ESG-Washing verringern. Nach außen suggeriert ESG ganzheitliche Nachhaltigkeit, dahinter steckt aber meistens nur ein kleiner Teil des großen Ganzen.

Nichts Neues: Nachhaltiges Bauen seit über 15 Jahren

Bis diese Standards auf regulatorischer Ebene geschaffen sind, kann und muss die Branche jedoch nicht warten. Denn bei der DGNB setzen wir uns seit mehr als 15 Jahren dafür ein, dass nachhaltiges Bauen im Bauen plan- und messbar wird. Dieses ganzheitliche Verständnis geht weit über das hinaus, was die diversen ESG-Ratings abdecken und die EU-Taxonomie im Status quo beschreibt. Die Nachhaltigkeitskriterien des DGNB Zertifizierungssystem werden seit vielen Jahren an Projekten erprobt und von Expertenteams der Branche stetig weiterentwickelt – lange bevor drei Buchstaben den Immobilienmarkt dominierten!

In Brüssel ist angekommen, dass Nachhaltigkeit bzw. ESG kein Zustand, sondern ein Prozess ist. Die Vorgaben entwickeln sich immer mehr in Richtung ganzheitlicher Betrachtung und werden schrittweise ambitionierter. Wer sich heute ernsthaft mit den Nachhaltigkeitsthemen und der Arbeit der DGNB auseinandersetzt, wird verstehen wie Nachhaltigkeit nicht um der Regulatorik willen umgesetzt wird, sondern um ein eine positive Umwelt zu gestalten, in der wir uns wohlfühlen und sicher sind. Werden Gebäude mit dieser Zielsetzung errichtet und betrieben, sind sie auch zukunftsfähig und wirtschaftlich – oder eben Taxonomie-, ESG-, SDG- und Paris-konform.

Und noch etwas: In dem sehr theorisierten ESG-Hype wird trotz „S“ gerne übersehen, dass wir alle in Gebäuden wohnen und arbeiten und uns in Städten aufhalten – auch die Entscheidungstragenden der Immobilienwirtschaft. Damit haben wir alle die Verantwortung, aber auch die Möglichkeit, eine gute gestaltete gebaute Umwelt zu schaffen. Das sollten wir einfach tun – und gleich heute konkret damit anfangen!

 

Kategorie: Impuls

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Seit Anfang 2009 ist Dr. Christine Lemaitre im Team der DGNB – zunächst als Leiterin der Abteilung System. Ein Jahr später übernahm sie die Rolle als Geschäftsführender Vorstand. Seither leitet die promovierte Bauingenieurin die Geschicke der DGNB. Die dreifache Mutter setzt sich gerade auch international für Nachhaltiges Bauen ein – etwa als Präsidiumsmitglied der Sustainable Building Alliance. Von 2015 bis Juni 2019 war sie zudem Vorsitzende des European Regional Network im World Green Building Council.

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