Nachhaltiges Bauen erlebt in Deutschland einen echten Boom. Doch wie sieht es bei unseren Nachbarn aus? Wie entwickelt sich das nachhaltige Bauen in anderen Ländern Europas und wo stehen wir im Vergleich? Dr. Christine Lemaitre, Geschäftsführender Vorstand der DGNB, nahm den DGNB Jahreskongress 2022 zum Anlass, sich mit Green Building Council Kolleginnen und Kollegen aus dem europäischen Ausland auszutauschen.
BLOGSERIE ZUM DGNB JAHRESKONGRESS 2022 (TEIL 7)
Am 23. und 24. Februar veranstaltete die DGNB einen digitalen Jahreskongress. Das Motto: die zunehmend vielfältigen Diskussionen rund ums nachhaltige Bauen aufgreifen und zusammenführen. Neben Impulsen und persönlichem Matchmaking standen zahlreiche Gesprächsrunden auf dem Programm. Mit diesem Beitrat schließen wir die Blogserie, in der die wichtigsten Botschaften der einzelnen Themenräume zusammengefasst sind.
Ein Blick über den Tellerrand hilft dabei die eigene Wahrnehmung zu reflektieren und neue Impulse zu bekommen. Allzu oft entsteht sonst der Eindruck, mit den täglichen Herausforderungen des eigenen Tuns allein dazustehen. Und genau diesen Blick wagte Dr. Christine Lemaitre am 23. Februar zusammen mit Mette Qvist, CEO Green Building Council Denmark, Bruno Sauer, Director Green Building Council España und Dr. Vlasta Zanki, President of the Board of Directors Green Building Council Croatia.
Für ein gemeinsames Nachhaltigkeitsverständnis
Im Themenraum „Sustainable Building in Europe“ des DGNB Jahreskongress 2022 gingen die geladenen Gesprächspartner der Frage nach, wie es in den einzelnen Ländern derzeit um das nachhaltige Bauen bestellt ist. Als DGNB Systempartner ist allen Ländern gemein, dass dort das ganzheitlich gedachte DGNB System zur Zertifizierung nachhaltiger Gebäude in adaptierter Form angewandt wird. Österreich und die Schweiz sind ebenfalls Systempartner.
Während sich Dänemark mit Beginn der Partnerschaft im Jahr 2011 entschieden hat, einzig auf das, von der DGNB entwickelte Zertifizierungssystem zu setzen, findet in Spanien zusätzlich das bereits vor der 2019 eingegangenen Partnerschaft entwickelte nationale System VERDE Anwendung. Als jüngster Partner adaptiert der, seit über zehn Jahren bestehende Croatia Green Building Council das DGNB System seit 2021 an die lokalen Anforderungen des osteuropäischen Landes.
Die Richtung stimmt
Wenngleich die einzelnen Länder hinsichtlich Akzeptanz und Entwicklung auf einem anderen Stand sind, merken alle deutlich, dass die Wahrnehmung um die Brisanz der Nachhaltigkeit in den letzten beiden Jahren deutlich zugenommen hat. Auch, dass die Bauindustrie eine wichtige Stellschraube beim Erfüllen des EU Green Deal von 2019 ist, haben mittlerweile alle begriffen. Die Entwicklung am Markt wird dadurch deutlich schneller.
Allerdings immer noch nicht schnell genug, wie Mette Qvist betont, aber zumindest geht es in die richtige Richtung. Dabei freut sie sich besonders, dass es sich gelohnt hat allen Widersachern zum Trotz die eigenen Ziele beharrlich zu verfolgen. War es zunächst die höhere Qualität eines nachhaltig errichteten Gebäudes mit dem sich vor allem Investoren überzeugen ließen, gelangen mittlerweile Themen wie CO2 Reduktion, Biodiversität und Kreislaufwirtschaft in das Bewusstsein aller im Immobiliensektor Beteiligten.
Sustainable Finance als Zugpferd
Können das EU-Klassifizierungssystem für nachhaltige Aktivitäten Taxonomie und die ESG Kriterien (Environment Social Governance = Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) helfen, das nachhaltige Bauen voranzutreiben? Dazu gibt es von allen ein klares Ja. Neben dem Finanzmarkt, der endlich beginnt die Vorteile nachhaltiger Investitionen zu sehen, sind es in Dänemark beispielsweise Pensionsfonds und Sozialwohnungsbaugesellschaften die den Weg einschlagen.
Auch in Spanien finden beide Themen Beachtung. Aus Sicht von Bruno Sauer passt das DGNB System perfekt zur Diskussion am Finanzmarkt und könnte dadurch noch mehr Rückenwind bekommen. Denn mit dem System lassen sich Bauweisen und deren unterschiedliche Auswirkungen kalkulieren, wodurch auch der finanzielle Wert nachhaltigen Handelns greifbar wird. Für Banken und Investoren zählt einzig und allein der Wert eines Gebäudes, die EU-Taxonomie spielt dem nachhaltigen Bauen somit direkt in die Karten.
Kroatien nutzt das europäische Green Building Council Netzwerk und dessen Erfahrungsschatz um abzuschätzen, was sinnvoll ist. Das Thema Nachhaltigkeit kommt erst langsam im Bewusstsein von Akteuren und der Bevölkerung an. Mit dem DGNB System scheint aber nun das richtige Instrument gefunden zu sein. Betrachtet Dr. Vlasta Zanki die Motivation der bereits angemeldeten Projekte, ist es in erster Linie die finanzielle Seite. Sei es um Fördergelder zu bekommen, die Kosten für den Gebäudebetrieb niedrig zu halten oder die Gebäude besser vermarkten zu können. Die EU-Taxonomie wird da künftig definitiv eine Rolle spielen.
Die DGNB hat zusammen mit Partnern der Climate Positive Europe Alliance (CPEA) die ESG-Verifikation zur EU-Taxonomie für den Immobiliensektor entwickelt. Damit lässt sich die Konformität von Immobilien mit den Kriterien der EU-Taxonomie überprüfen.
Die moralische Frage beim Zertifizieren
Ein Zuhörer richtet sich im Chat direkt an Mette Qvist. Am Beispiel der geplanten künstlichen Insel Lynetteholm wird die Zertifizierung von Projekten thematisiert, deren nachhaltiger Nutzen umstritten ist. Das im Hafen von Kopenhagen gelegene Großprojekt soll die dänische Hauptstadt vor den Folgen des Klimawandels schützen und 35.000 Menschen ein Zuhause bieten und wird aktuell kontrovers diskutiert.
Dazu ergänzt Dr. Christine Lemaitre, dass das DGNB System ein Instrument ist, mit dem sich die nachhaltige Beschaffenheit von Gebäuden und Quartieren messen lässt. Eine DGNB Zertifizierung erteilt keine Absolution und beurteilt nicht die Sinnhaftigkeit einzelner Projekte. Niemand wird dadurch aus der Verantwortung entlassen. Vielmehr kann das System helfen, frühzeitig den richtigen Weg einzuschlagen. Entscheidungen und daraus resultierende Konsequenzen müssen von jedem selber getragen werden.
Was kommt als nächstes?
Zum Schluss wünschte sich Dr. Christine Lemaitre noch einen Blick in die Zukunft. Welche Themen müssen alle am Bau Beteiligten in den Fokus nehmen um in puncto Nachhaltigkeit langfristig am Ball zu bleiben?
Bruno Sauer verweist hierzu auf die aktuelle Studie zu planetaren Grenzen des schwedischen Resilienzforschers Johan Rockström The nine planetary boundaries aus der hervorgeht, dass der Verlust der Biodiversität eines der größten Probleme auf unserem Planeten ist. Hier trägt der Bausektor viel Verantwortung. In der Stadt muss aus Sicht des Spaniers zudem der Maßstab vergrößert werden. Es sind nicht nur Gebäude, die es dringend zu sanieren bedarf. Die Stadt an sich muss in den Fokus geraten um den Folgen des Klimawandels zu entgegnen.
Mette Qvist betont wie bereichernd der Austausch und die gegenseitige Unterstützung mit den europäischen Kolleginnen und Kollegen ist. Das Thema Biodiversität ist auch in ihren Augen eines der Wichtigsten für das dringend ein Umgang gefunden werden muss. Hinzu kommen die Kreislaufwirtschaft und der Bestand. Bei Letzterem geht der Trend in Dänemark bereits in die richtige Richtung: Unternehmen sanieren ihre Niederlassungen aus Überzeugung und passen diese sich ändernden Anforderungen an, anstatt wie bislang üblich neue Gebäude zu errichten.
Dr. Vlasta Zanki sieht in ihrem Land neben dem erdbebensicheren Bauen den Bestand als große Herausforderung. Während es für den Neubau bereits strenge Regularien gibt, die stets weiterentwickelt werden, muss hier ein Umgang gefunden werden. Zudem plädiert sie dafür den Transport- und Energiesektor stärker einzubeziehen, beides Bereiche, die einen Einfluss auf die Bauindustrie haben. Nicht zu vergessen die Digitalisierung und ihr Einfluss auf die Dekarbonisierung verschiedener Prozesse.
Nach den rationalen Fakten schloss Dr. Christine Lemaitre ihren Themenraum mit der Bitte an ihre Mitstreiter, DGNB einmal auf Spanisch, dänisch und kroatisch auszusprechen. Um in diesen Genuss zu kommen, starten Sie die Aufzeichnung.
Sie wollen mehr erfahren?
Unter folgendem Link finden Sie die komplette Aufzeichnung des Themenraums. Alle Impulse und Themenräume des DGNB Jahreskongresses 2022 stehen auf dem Youtubekanal der DGNB zur Verfügung.