Viele Architekturfakultäten haben für das Thema Nachhaltigkeit in Lehre und Forschung noch kein Selbstverständnis entwickelt. Dabei liegt hier die große Chance, jungen Menschen das Thema frühzeitig zu vermitteln und in die Zukunft zu führen. Alle Hochschulen sollten Klima- und Ressourcenschutz daher als Kernthema auf ihre Agenda setzen.
BLOGSERIE ZUM NEUEN JAHRZEHNT (TEIL 5)
2020 ist nicht irgendein Jahr. 2020 heißt: Nur noch zehn Jahre bis 2030, das Jahr, an das so viele Nachhaltigkeitsziele geknüpft sind. Vor diesem Hintergrund gibt das DGNB Präsidium eine Einschätzung zur Entwicklung des Gebäudesektors in den letzten zehn Jahren ab und blickt nach vorn. Ein Thema, sechs Perspektiven. Im nächsten Beitrag blickt Anke Karmann-Woessner auf die Themen der Nachhaltigkeit in Quartieren und Städten.
Ich halte es für die Pflicht von uns Professor*innen, die vielfältigen Themen und Bereiche der Nachhaltigkeit in Lehre und Forschung zu tragen! Wenn wir dies nicht tun, gehen jedes Jahr Tausende von jungen Architekt*innen in die Praxis, ohne die entsprechenden Kompetenzen gewonnen zu haben!
Viele Hochschulen haben das Potenzial noch nicht erkannt
Immerhin haben deutsche Architekturfakultäten in den letzten drei bis vier Jahren vermehrt Fachgebiete mit Schwerpunkten wie „Energie & Nachhaltigkeit“ oder „Energieeffizientes Bauen“ besetzt.
Doch bei vielen fehlt noch das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Der Begriff wird oft auf Energieeffizienz verengt und sogar mit einer Vernachlässigung von gestalterischer Qualität verbunden. Ich wünsche mir daher ein differenziertes Verständnis von Nachhaltigkeit. Dieses schließt sowohl baukulturelle sowie sozialgesellschaftliche Werte ein. Wir als Lehrende in der Architektur sollten der jungen Generation von Studierenden eine generalistische Perspektive auf den Bau- und Planungsprozess vermitteln. Nur der holistische Blick in unsere Disziplin und disziplinübergreifendes Denken und Handeln kann zu zukunftsfähigen Lösungen führen.
Seit 15 Jahren gelebte Nachhaltigkeit an der TU Darmstadt
Der Klimawandel ist sehr komplex. Und ebenso komplex sind die Lösungsansätze. Die fundierte Implementierung in Lehre und Forschung fordert klare Konzepte und viel Zeit. Gleichzeitig bietet sie enorme Potenziale. Das zeigt das Beispiel der Technischen Universität Darmstadt, an der ich tätig bin.
Unsere Architekturfakultät arbeitet seit 15 Jahren sehr intensiv daran, die nachhaltige Perspektive als Selbstverständlichkeit zu etablieren. Bereits seit 2005 ist der Begriff in unserer Profilagenda verankert. Von Anfang an legten wir den Fokus auf eine anwendungsorientierte Umsetzung: durch den Bau von Prototypen. Mit der erfolgreichen Teilnahme an internationalen Architekturwettbewerben wie den Solar Decathlon in den USA und Europa erhielten wir Anerkennung und Sichtbarkeit. Der beste Motivator für unsere Studierende!
Ein wichtiger Meilenstein, um das Thema in die Breite und Tiefe zu entwickeln, war die Öffnung über die eigene Disziplin hinaus. Dazu trugen in hohem Maße das Graduiertenkolleg für Energieforschung an der TU Darmstadt mit 50 Promotionen im Bereich Energie sowie der interdisziplinäre Masterstudiengang „Energy Science and Engineering“. Oder wir realisierten zusammen mit Maschinenbauern und Bauingenieuren das Projekt der energieeffizienten Fabrik ETA, die 2017 auf dem Campus Lichtwiese ihren Betrieb aufnahm.
Nach fünf Jahren Forschungsarbeit zeigt die ETA-Fabrik, dass sich in der industriellen Produktion durch geschickte Vernetzung von Anlagen und Industriegebäude bis zu 40 Prozent Energie sparen lassen.
Mit diesem Rückblick möchte ich zeigen: Es lohnt sich, diesen Weg zu gehen. Unsere Studierende gründen Start Ups oder promovieren in diesem Bereich. Einige sind mittlerweile zu Professor*innen berufen worden. Wieder andere haben Schlüsselpositionen in Ministerien und Institutionen. Sie tragen ihr Wissen in die Praxis und die Gesellschaft. Dies bestärkt und motiviert uns, unsere Lehrkonzepte weiter auszufeilen und die Forschung voranzutreiben.
Appell zur Aktion an Professor*innen
Mein Appell geht explizit an die Lehrenden. Wenn Sie das Thema für wichtig halten, setzen Sie sich bitte dafür ein. Starten Sie einen Dialog und greifen Sie auf bestehende Netzwerke in diesem Bereich zu! Die Studierenden haben, so meine Erfahrung, eine sehr enge emotionale Bindung zur Frage, wie wir unseren Planeten und alle dort lebenden und siedelnden Lebewesen vor Zerstörung schützen können. Aber sie benötigen Orientierung, Begleitung und eine Wertevermittlung. Mehr denn je besteht die Chance, hier klare Lehrprogramme zu bieten und die Studierenden dafür zu begeistern, ihren Beitrag zu leisten! Die Themengebiete im Bereich der Nachhaltigkeit sind vielfältig. Daher empfehle ich, einen eigenen Schwerpunkt zu finden, in dem die eigenen Erfahrungen und Kompetenzen optimal eingebracht werden können und das eigene Selbstverständnis hervortritt.
Die klare Haltung überzeugt
Gegenstimmen sollten uns nicht stoppen! Auch an der TU Darmstadt entwickelte sich mit der Schärfung unseres Profils ein Konflikt. Der Vorwurf lautete: Nachhaltigkeit gehe zu Lasten der architektonischen Qualität und sei nur ein Modewort. Der Begriff wurde stigmatisiert und trennte, was eigentlich zusammengehört. Es entstanden zwei Fronten: die Entwerfer vs. Energiefanatiker, die Künstler vs. Pragmatiker.
Wir haben uns davon nicht abhalten lassen, den Dialog gesucht und tragfähige Lehrmodelle etabliert. Zudem sind wir in der Forschung sehr erfolgreich und bestens vernetzt. Heute ist dieser Konflikt überwunden. Signifikante Architekturpreise für die Qualität unserer Arbeit haben die Gegenstimmen verstummen lassen. Die beste Überzeugungsarbeit liegt im Tun aus Überzeugung und in der Aktion.
Ausblick: Viele unausgeschöpften Potenziale
Damit der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen und Klima über die Fachbereiche hinaus zur Selbstverständlichkeit wird, bedarf es nicht nur motivierter Professor*innen und interessierter Studierenden. Es braucht auch eine klare Haltung der Hochschulleitung. Ich sehe zwei zentrale Aufgaben, die zur erfolgreichen Implementierung führen:
1. Nachhaltigkeit interdisziplinär fördern
Gerade an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen ist dieses allumfassende Thema bestens aufgehoben. Hier entstehen die spannendsten und innovativsten Projekte. Diese sollten aktiv gefördert werden. Dem Fachbereich der Architektur kann hier eine Schlüsselrolle zukommen. Zum Beispiel durch den Prototypenbau vermag sie Disziplinen wie Elektrotechnik oder Maschinenbau zu integrieren und die ganzheitlichen Aspekte des Themas zu adressieren. Jede Disziplin kann wichtige Beiträge liefern.
2. Nachhaltigkeit vorleben
Die Hochschulleitung sollte ihre Überzeugung vorleben und klare Signale in alle Fachbereiche, in die universitäre Familie übermitteln – im Großen wie im Kleinen. Sei es durch die neue Ausrichtung von Professuren, die Bereitstellung von E-Bikes oder durch gezielte Aktionen und Statements bis in die eigenen Immobilien über energieeffiziente Campusprojekte. Wie wäre es mit einer Art Nachhaltigkeitsmanifest? All das hätte eine enorme Strahlkraft nach innen und außen.
An der TU Darmstadt sind wir zwar weit, aber noch lange nicht zufrieden und diskutieren sehr viel, um unausgeschöpfte Potenziale zu entwickeln. Der Prozess ist vielfältig und offen, daher spannend und voller Perspektiven.
Hochschulkooperationen mit der DGNB
Damit Nachhaltigkeit integraler Bestandteil der Ausbildung von Architekten wird, arbeitet die DGNB Akademie mit über 60 Hochschulen in mehr als zehn Ländern zusammen. Mitglieder wie auch die TU Darmstadt erhalten Zugang zu Lehrmaterialien der Wissensplattform und können ihren Studierenden Zusatzqualifikationen im Bereich des nachhaltigen Bauens anbieten. Mehr dazu hier.
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