Mit dem Ziel, die Entwicklung nachhaltiger Industriegebiete in Indien zu fördern, hat das Berliner Unternehmen BuroHappold Engineering ein Lern-Spiel entwickeln, das die Prinzipien des DGNB Systems auf besondere Weise vermittelt. Im Interview stellt Senior Consultant und DGNB Auditor Thomas Kraubitz vor, was es mit dem Spiel auf sich hat und wie das Thema Nachhaltiges Bauen in Indien wahrgenommen wird.
Felix Jansen (FJ): Lieber Thomas Kraubitz, im Auftrag der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) habt ihr von BuroHappold für den indischen Markt etwas ganz Besonderes entwickelt: ein Lern-Spiel basierend auf dem DGNB System für Industriestandorte. Wie genau soll es eingesetzt werden und was versprecht ihr euch davon?
Thomas Kraubitz (TK): Über die letzten drei Jahre haben wir der GIZ in Indien geholfen, die nationalen Standards für nachhaltige Industriegebiete zu entwickeln. In diesem Zusammenhang konnten wir vor Ort mehrere Trainings anbieten und viel über die lokale Situation lernen. Um das Handwerkszeug der Planung, des Betriebs und der Revitalisierung von Standorten partizipativ und attraktiv zu vermitteln, haben wir ein Spiel zum Einsatz in Indien entwickelt. Grafisch, durch Text und einen groben Kosten/Nutzen-Abgleich können die Spieler die Wechselwirkungen unterschiedlicher Kriterien unbefangen kennenlernen und neue, ganzheitliche Konzepte entwickeln. Mit lokalen Partnern wird das Spiel auch in die entlegeneren Bereiche Indiens gebracht, um auch dort Verbesserungen der Industriestandorte zu ermöglichen.
FJ: Wie seid ihr vorgegangen, um auch die Kriterien des DGNB Systems in eine spielbare, didaktisch sinnvolle und für den indischen Markt funktionierende Form zu bringen?
TK: Wir haben uns erstmal frei gemacht von Zertifizierungssystemen und dem Ziel einer Plakette am Ende des Prozesses. Viele der Industriegebiete sind in derart schlechtem Zustand, dass wir hier bereits mit einigen wenigen smarten Konzepten enorme Verbesserungen erreichen können. Wir wollten auch nur solche auf dem indischen Markt anwendbare Verfahren und Strategien vorstellen, in denen Low-Tech-Komponenten gegenüber jenen mit hohem technischem Einsatz – und entsprechend notwendiger Wartung – der Vorrang zu geben ist. Aus unseren Trainings der letzten Jahre konnten wir vielfältige Themen aufnehmen, die im DGNB System nicht vorgesehen bzw. nicht notwendig sind, wie etwa Verzicht auf Kinderarbeit, Bereitstellung von Arbeitsschutzausstattung und medizinische Grundversorgung. Einige der 250 Spielkarten basieren auf vereinfachten DGNB Kriterien, viele Komponenten sind aber neu ins Spiel eingeflossen. Vielleicht finden sich diese ja auch im nächsten Systemupdate zu DGNB Industriestandorten wieder.
FJ: Wie viel Arbeit habt ihr denn in das Produkt gesteckt? Wie lang war die Entwicklungszeit? Und kann es bei einem Projekt wie diesem einen Return on Investment geben?
TK: Staatlich geförderte Projekte haben natürlich einen engen finanziellen Rahmen, da wir aber auf Projekterfahrungen im Bereich industrieller Produktion im In- und Ausland zurückgreifen konnten und ein engagiertes Team haben, war es möglich, in nur wenigen Monaten ein ausgewogenes, gleichermaßen lehrreiches wie spannendes Spiel zu konzipieren, dessen Entwicklung uns allen sehr viel Freude bereitet hat. Das Konzept der Vermittlung komplexen Ingenieurwissens auf Spielkartengröße kann auch bei anderen Projekten, gerade in der Vorentwurfsphase helfen, die richtigen Fragen aufzuwerfen, Verbindungen von Individualkonzepten zu ermöglichen und Synergien maximal zu nutzen. Entwicklungshilfe ist kein Bereich für große Profite, doch die Wissensvermittlung ist sehr sinnstiftend und befriedigend.
FJ: Noch vor chinesischen liegen indische Städte deutlich an der Spitze der Metropolen mit der größten Luftverschmutzung weltweit. Wie offen sind die staatlichen Institutionen und Investoren in Indien vor diesem Hintergrund für Prinzipien des Nachhaltigen Bauens? Oder geht das Thema eher unter neben den sozialen Herausforderungen, die es im Land gibt?
TK: Ich habe einige Jahre in China und Südostasien gelebt. Dort führte das Ausmaß der industriellen Produktion und ihrer Umweltbelastung vermehrt zu verschiedensten Problemen wie Luft- und Wasserverschmutzung. In Indien sind es aber gerade die vielen Klein- und Kleinstbetriebe, die enorm zur Umweltverschmutzung beitragen, häufig durch Unwissenheit. Hier setzt unser Spiel an und zeigt vor allem Synergien auf, die auch mit geringen finanziellen Möglichkeiten umsetzbar sind. Durch das neue ‚Make in India‘ Programm der indischen Regierung wird besonders der Ausbau der Individualfähigkeiten von Industriearbeitern und deren Managern gefördert. Ein jährliches Wachstum der industriellen Produktion von 12 bis14 Prozent wird bis 2022 weitere 100 Millionen Arbeitsplätze in der industriellen Produktion fordern, hier geht es also um die Breitenwirkung – ein idealer Einsatz für das Spiel, das auch ohne Vorkenntnisse gespielt werden kann und in das Thema nachhaltige Industriestandorte einführt. Industrieparks wurden bisher weitgehend ohne Betrachtung der Nachhaltigkeitsaspekte geplant, doch nach und nach erkennt man die ökonomischen Vorteile nachhaltiger Industriegebiete, die durch weniger Ressourcenverbrauch höhere Gewinne erzielen – genau damit erreicht man auch die Entscheidungsträger der Industrie. Die Lösung dieser Probleme kann mittelbar auch zur Lösung von sozialen Problemen beitragen.
FJ: Als DGNB Auditor kennst du das DGNB System bis ins Detail – in Theorie und Praxis. Gab es im Rahmen des Projekts in Indien dennoch etwas Neues, das du über die Arbeit mit dem DGNB System gelernt hast?
TK: Wir brauchen uns mit dem DGNB System für Industriestandorte international nicht verstecken. In Vorbereitung der Trainings und im Rahmen unserer Zuarbeit für das von der GIZ entwickelte Nationale Handbuch für Industriestandorte in Indien haben wir verschiedenste Methoden und Protokolle für ‚Green Industrial Areas‘ untersucht. Im Rahmen von Voruntersuchungen, sogenannten ‚DGNB Quick Checks‘, haben wir sieben Industriegebiete in Indien betrachtet, die uns wichtige Hinweise zur Systemanpassung innerhalb des Landes gaben. Besonders die Erweiterung grundlegender Aspekte, wie Verzicht auf Kinderarbeit, elementarer Arbeitsschutz und Steigerung des Sicherheitsempfindens, müssen zusätzlich betrachtet werden. Begeistert waren wir von den vielen innovativen Ansätzen zur Schaffung von Freizeit- und Erholungsangeboten innerhalb der Industriestandorte. Das DGNB System ist nicht nur für reiche Industrieländer ein gutes Werkzeug zur nachhaltigen Standortentwicklung, sondern kann auch einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung deutscher Unternehmen im Ausland und in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit leisten.
FJ: Wie wird das Spiel denn eigentlich gespielt?
TK: Wir haben uns entschieden, das Spiel so zu gestalten, dass es von unterschiedlichen Zielgruppen gespielt werden kann, so zum Beispiel von Planern von Industriestandorten, deren Betreibern, Investoren oder sogar Studenten. Letztlich handelt es sich um eine Mischung aus Memory und Kartenspiel. Die Spieler (3 bis 12) bekommen zu Beginn eine Anzahl an Spielkarten unterschiedlicher Kategorien und müssen im Spiel weitere Karten mit Synergieeffekten sammeln, um dadurch einen ersten Ansatz zu einem Gesamtkonzept zu schaffen. Die Karten können mit den Mitspielern getauscht werden und am Ende gewinnt das überzeugendste Konzept. Der Lerneffekt resultiert sowohl aus dem eigenen, im Spiel entwickelten Konzept als auch aus der Beobachtung der Mitspieler und ihrer Konzepte. Am Ende des Spiels werden jeweils zwei Spieler aus ihren einzelnen ein Gesamtkonzept entwickeln und gemeinsam präsentieren. Wir haben viel Erfahrung und Arbeit in die Spielentwicklung und das Spielmaterial gesteckt und freuen uns sehr über den Erfolg, den es in Indien hat.