„Systeme, die die Gestaltungsfreiheit und Kreativität der Planer einschränken, sind grundsätzlich falsch und untauglich“, sagt Thomas Auer. Er ist Professor für Gebäudetechnologie und Bauklimatik an der Technischen Universität München und Geschäftsführer von Transsolar Energietechnik. In unserem Bloginterview spricht er nicht nur über die Unterschiede der international verfügbaren Zertifizierungssysteme für Gebäude und die besondere Rolle der DGNB. Er zeigt auch auf, welche Rolle Architekten und Ingenieuren bei der notwendigen Transformation der gebauten Umwelt zukommt.
Felix Jansen: Im Rahmen der World Sustainable Built Environment Conference 2017 in Hongkong hast du einen Keynote-Vortrag zur ökologischen Transformation der gebauten Umwelt gehalten. Wo stehen wir bei diesem Transformationsprozess?
Thomas Auer: Alleine Wärmedämmung an Fassaden anzubringen wird nicht helfen. Seit der Wärmeschutzverordnung 95 – also seit nunmehr über 20 Jahren – fordert der Gesetzgeber einen guten Wärmeschutz unserer Gebäude. Im gleichen Zeitraum haben sich die CO2-Emissionen des Gebäudesektors quasi nicht verändert. Sprich: Wir stehen ganz am Anfang!
FJ: Wo muss die Branche ansetzen, um ihren Beitrag zum Erreichen der globalen Klimaziele so gut es geht leisten zu können?
TA: Wir beginnen langsam zu verstehen, wie tiefgreifend und einschneidend die Transformation sein muss, damit sie uns dem Ziel einer „Dekarbonisierung“ des Gebäudesektors näherbringt. Trotzdem haben wir noch lange nicht alle Antworten und brauchen sehr viel mehr Ambition, Kreativität und Mut aller Beteiligten – angefangen bei den öffentlichen, aber auch privaten Bauherrn, den Kommunen, über die Bauschaffenden (Architekten, Ingenieure, Industrie, Handwerk, etc.) bis hin zu den forschenden Einrichtungen.

Thomas Auer bei der World Sustainable Built Environment Conference 2017 in Hongkong
FJ: Im Zuge der Konferenz ist ein Interview mit dir unter dem plakativen Titel „Are green buildings standards helping to reduce climate change?“ erschienen. In diesem sagst du über das US-amerikanische LEED-System und den lokalen Standard in Hongkong, dass diese zwar qualitätssichernd seien, aber weder zu Innovation führen noch einen signifikanten Beitrag zur Reduktion von CO2-Emissionen leisten. Woran liegt das?
TA: Zertifizierungssysteme für Gebäude und Quartiere basieren grundsätzlich auf dem aktuellen „Stand der Technik“ bzw. der derzeitigen Qualität von Gebäuden und versuchen diese zu verbessern; sprich nachhaltiger zu machen. Sie stellen aber die gängige Bauweise nicht in Frage. Hinzu kommt, dass Systeme wie das amerikanische LEED die Lösungen und nicht die Ziele definieren. Z.B. gibt es in LEED Punkte für den Recyclinganteil im Beton – wenn man aber durch innovative Strukturen die Menge an erforderlichen Beton reduziert, gibt es keine Punkte. Diesen Mangel versucht man auszugleichen, indem man Punkte für Innovation vergibt. Die Anzahl der Punkte sind limitiert, wodurch man i.d.R. nicht für alle Innovationen Punkte bekommt bzw. man diese Punkte sowieso für jedes Gebäude bekommt. Die DGNB ging mit dem System den Weg, die Ziele und nicht den Weg zu beschreiben. Dies ist ein steiniger Weg, was das System in seiner Anwendung auch komplexer macht. Trotzdem ist der Ansatz wichtig und richtig und das DGNB System deutlich besser und konsequenter als beispielsweise das amerikanische LEED.
FJ: Gerade hat die DGNB die Kommentierungsphase für die Version 2017 des Zertifizierungssystems gestartet. Darin gibt es beispielsweise „Innovationsräume“ als neues Instrument zur Stärkung neuartiger Ansätze. Damit sollen projektindividuelle Lösungen gefördert werden – für mehr Vielfalt in der gebauten Umwelt. Für wie wichtig hältst du solche Gestaltungsfreiheiten für Planer.
TA: Systeme, die die Gestaltungsfreiheit und Kreativität der Planer einschränken, sind grundsätzlich falsch und untauglich! Wir müssen erkennen, dass ein Zertifizierungssystem generell gehalten sein muss. Es ist anwendbar für große und kleine Gebäude – urban als auch ländlich. Jedes Gebäude und jede Quartiersentwicklung hat aber auch sehr spezifische Randbedingungen bzw. Nachhaltigkeitskriterien, die vom Ort, Bauherrn, Nutzer, lokalen Klima, etc. abhängen. Diese zu entwickeln und aus den allgemeinen und den spezifischen Nachhaltigkeitskriterien Ziele abzuleiten, ist eine Aufgabe der Planer (HOAI Leistungsphase 1) – dies kann ihnen kein noch so gutes System abnehmen. Zertifizierungssysteme sollten Innovation fördern und nicht behindern, die Innovation muss aber von den Architekten, Ingenieuren und nicht zuletzt vom Bauherrn kommen. Das war die eigentliche Aussage des Interviews, das ich in Hongkong gegeben habe: Architekten und Ingenieuren kommt hinsichtlich der notwendigen Transformation der gebauten Umwelt eine große Verantwortung zu und sie können sich nicht auf Zertifizierungssysteme oder den Gesetzgeber zurückziehen – was nicht gegen gute Zertifizierungssysteme spricht; ganz im Gegenteil!